In der Mode sind viele Falten im Spiel: Plisseefalten, Bundfalten, Bügelfalten, Faltenrock, und es gibt den Faltenwurf, den Faltenstoff und Knitterfalten. Außerhalb der Mode finden wir den Faltenhund, das Faltenbrot und das Faltengebirge. Diese Aufzählung ist bestimmt nicht vollständig. Was diese Begriffe aber gemeinsam haben, ist eine positive Bewertung. Selbst die Knitterfalten knittern (bei Leinen) edel. Dennoch erhalten im Allgemeinen die Falten unseres Körpers, besonders im Gesicht, nicht immer eine positive Einschätzung. Warum sind Falten beim Rassehund schön, im Gesicht einer Klassefrau aber nicht?
Es gibt also viele Beispiele toller Mode mit Falten. Gezeigt werden diese Kreationen aber von Models mit einem Gesichtsausdruck, der weder eine Mimik, noch die kleinste Falte zeigen darf. Gut, der Blick soll auf das Designerkleid fallen und nicht von einem strahlenden Lächeln auf dem Laufsteg abgelenkt werden. So kommt es auch, dass die Persönlichkeit der einzelnen Models leider völlig untergeht, wenn nicht sogar unterdrückt wird. Alle sehen gleich aus, mit dem gleichen Gesichtsausdruck und haben den gleichen Gang.
Wir beginnen mit einem Zitat, um über eine wirkliche Persönlichkeit in der Modewelt zu berichten, die beim vorherrschenden Gleichheits- und Jugendwahn völlig aus dem Rahmen fällt: „Die Zeit der Supermodels ist vorbei. Man will keinen Star mehr, der aus der Reihe tanzt. Daher bewegen sie sich auch alle gleich. Und das vermisse ich als Tänzerin auf dem Catwalk sehr: die Individualität des Laufens. Jeder Mensch hat ja eine gewisse Art und Weise, sich zu bewegen, und das sollte man herausarbeiten. Der eigene Gang zeugt von Persönlichkeit.“ Das sagte Eveline Hall in einem Interview, als sie gefragt wurde, was sich gegenüber den berühmten Modenschauen der 70er Jahre geändert hat, als sie selbst noch als Model von Fendi, Dior und Balmain gelaufen ist.
Eveline Hall war Solotänzerin an der Hamburger Staatsoper, ging als Show-Girl nach Las Vegas, heiratete einen Cherokee-Indianer, spielte in Frankreich und in der Schweiz Theater. Heute, mit über 70, ist sie ein international gefragtes Model und arbeitet mit Starfotografen wie Peter Lindbergh und Ellen Unwerth zusammen. Sie hat es verstanden, sich immer wieder neu zu erfinden und selbst zu verwirklichen. So wie sie ihr Leben gestaltet, stets nach vorne schaut und immer ihrer Intuition folgt, wird sie noch viele neue Dinge in Angriff nehmen. „Ich bin niemand, der wartet, dass jemand an die Tür klopft. Ich gehe raus und nehme mein Leben selbst in die Hand.“
Wer würde sich also besser eignen als sie, um über das Thema Falten und Alter zu sprechen. Es war ihre ganz persönliche, eigene Ausstrahlung, die den Modedesigner Michael Michalsky veranlasste, sie auf der Fashion Week Berlin über den Catwalk zu schicken. Seitdem arbeitet sie mit den gefragtesten Modefotografen zusammen und ziert die Titelseiten der Modemagazine.
Dass die Modebranche dieses Phänomen jetzt verstärkt aufgreift, ist nur logisch, denn schließlich altern mit der Gesellschaft auch ihre Designer. Karl Lagerfeld, Vivienne Westwood und Wolfgang Joop sind mittlerweile auch über 70. Diese Persönlichkeiten sind bei den Mode-Präsentationen ganz entscheidend; es ist schon phänomenal, dass junge Menschen einen Mann wie Lagerfeld von über 80 als die Mode-Instanz schlechthin sehen. Sie vertrauen ihm nicht trotz, sondern wegen seines Alters.
Für Eveline Hall ist das Alter kein Thema: „Ich habe mich nie alt gefühlt, ich müsste lügen. Wenn ich an den Punkt gekommen wäre, an dem ich mich alt fühle, hätte ich mich bestimmt nicht immer wieder neu erfinden können. Ich empfinde es als Glück, dass ich mich nie alt gefühlt habe.“ Und es ist nicht zu übersehen, dass sie sich in ihrer Haut wohlfühlt. Wenn sie in den verschiedenen Talkshows zu Gast ist, gestaltet sich ihr Besuch immer zu einem „Auftritt“ – es ist nicht zu übersehen, dass sie einmal Tänzerin gewesen ist und ihre Bewegungen einem Bühnenauftritt gleichen. Sie gilt als äußerst diszipliniert, ehrgeizig und professionell. Diese Disziplin und ihre Authentizität spürt man mehr denn je. Wenn Eveline Hall, das deutsche Supermodel der Generation 60+, über die Laufstege schwebt, trägt sie ihre langen silbergrauen Haare meist offen. Mit dem Begriff Alter sollte man sich ihrer Meinung nach nicht ständig befassen, weil man sich da nur ausgrenzt. Sie verbindet damit in erster Linie „Reife“ und der Motor, der sie antreibt, ist ihre große Abenteuerlust.
Befassen wir uns kurz noch einmal mit dem Thema „Falten“. Kurz deswegen, weil es für Eveline Hall einfach kein Thema ist. “ Falten sind für mich kein Makel, sondern vielmehr ein Zeichen von Authentizität. Wenn man Ausstrahlung besitzt, bleibt einem diese auch im hohen Alter, völlig egal, ob man Falten hat oder nicht. Die Kamera sieht letztlich sowieso alles und wieso sollte ich mich lächerlich machen und straffen lassen? Das möchte ich nicht.“ Mit dieser Auffassung steht sie glücklicherweise nicht ganz alleine da. So verzichtete man bei Yves Saint Laurent etwa auf großes Make-up und Haarstyling, als 2015 die 71-jährige Joni Mitchell vor der Kamera stand. Auch die ungewöhnliche übermütige Designerin Vivienne Westwood stellte das Besondere des Alters einmal fest: „Es hat noch nie so viele hässliche Menschen wie heute gegeben – mit Ausnahme der über 70-Jährigen.“
Dass speziell in der Mode ein immer stärkeres Augenmerk auf die ältere Generation gelenkt wird, ist nicht nur eine Marketing-Strategie. Man möchte weg von dem starren Einerlei, hin zu Personen mit Ausstrahlung, mit Ausdruck und Gesichtern, die die Lebenserfahrungen widerspiegeln. Keine noch so tolle Kreation wirkt auf einem Kleiderständer, sondern nur dann, wenn sie mit Lebendigkeit und Bewegung ausgefüllt wird. Selbst ein faltenloses Kleid hat nur dann eine Wirkung, wenn ihre Trägerin es mit Ausstrahlung und Individualität präsentiert.
Eveline Hall hat Mut gebraucht, um den Weg als Repräsentantin ihrer Generation zu gehen. Der Erfolg, den sie hat, sollte anderen ein Beispiel sein, auch wenn der Laufsteg der Fashion Weeks nie mit Models 60+ geflutet wird, denn es ist ein harter Weg, der viel Disziplin und Durchhaltevermögen erfordert. Wer sich für den privaten und beruflichen Lebensweg von Eveline Hall interessiert, sollte unbedingt ihr Buch „Ich steig aus und mach ’ne eigene Show“ lesen, eine Biografie, in der sie von Schwierigkeiten erzählt, aber auch von positiven Erlebnissen und Begegnungen mit interessanten Persönlichkeiten. Der Verlag Eden books bezeichnet das Buch als „Die Biografie einer mutigen Optimistin, der es immer wieder gelang, sich neu zu erfinden. Ballerina, Showgirl, Schauspielerin, Model – Eveline Hall lebt ihre Philosophie seit über 70 Jahren: Sie ist der Prototyp der modernen Frau, kompromisslos und immer ihrer Zeit voraus. Es ist nie zu spät, sich selbst zu verwirklichen! “
© Heide Brandes/Fashion Guide Magazin